Heiko Häselbarth, 20.01.1993


Reformpädagogische Thesen


Die Reformpädagogik als eine umfassende pädagogische Erneuerungsbewegung hat auch heute und gerade heute ihre Existenzberechtigung. Es gilt, die grundlegenden Orientierungen modifiziert in konkreten Situationen umzusetzen.

Hierbei sollte die Förderung von Selbständigkeit und Selbstbestimmung in Form von Aktivität, Spontanietät, Phantasie, Sensibilität und Kreativität mit dem Ziel der Herausbildung einer schöpferischen und verantwortungsbewußten Persönlichkeit weiterhin das Grundanliegen darstellen.

Um dies zu verwirklichen sollte folgendes beachtet werden:

1) Entfaltung der Individualität

Die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen ist im hohen Maße von den Werten, nach denen er sich orientiert und bei deren Akzeptanz er auch von der Gesellschaft auferlegte Normen erfüllt, abhängig. Diese Werte, nach denen dann eine subjektive Lebensplanung erfolgen kann, vermag die bestehende Gesellschaft nicht zu vermitteln. Hierbei ist Schule mehr gefordert, Hilfen zur individuellen Lebenssinnfindung sowie Orientierungen an Werten und sozialen Normen zu geben. Solange Schule sich jedoch vordergründig an bildungstheoretischen Maximen orientiert, ist dies nicht möglich. Nur in einem partnerschaftlichen Lehrer-Schüler-Verhältnis kann der Lehrer dem Schüler ein Identifikationsangebot bieten, indem er sich mehr öffnet und auch kontroverse Vorstellungen toleriert. Er sollte mehr Berater und weniger Vermittler sein und dem Schüler mehr Eigenverantwortung übertragen. Lernen als Prozeß der Selbsterkenntnis beinhaltet Unterricht als Hilfe zum Lernen. Die Qualität von Unterricht und damit auch die Lehrerpersönlichkeit sind an der Annahme bzw. Ablehnung dieser Hilfen durch den Schüler zu messen.

2) Miteinander Leben und Lernen

Die Herausbildung der Selbstbestimmung beinhaltet auch, in die eigene Lebensplanung die anderen einzubeziehen. Der Mensch existiert nicht aus sich selbst oder für sich allein. Es besteht heute allerdings meist nur ein individueller Rechtsanspruch, d.h. Selbstbestimmung bzw. Selbstverwirklichung ohne Rücksicht auf andere. Durch den permanent ansteigenden Leistungsdruck in der Schule wird diese Entwicklung weitergeführt. Auch wenn in unserer hochentwickelten Industriegesellschaft Konkurrenzverhalten und damit einhergehender Leistungsdruck heute bestimmend sind, ist dies nicht auf die Schule zu übertragen. Eine beständig hohe Leistung ist nur unter motivationalen Aspekten erreichbar, wobei sich die Motivausprägungen, nach denen gehandelt wird, mehr vom individualistischen Anspruch zu den die gesamte Menschheit betreffenden Problemen hin verschieben müßten. Hier gilt es, das Denken insgesamt zu reformieren, was nicht zuletzt auch einen verantwortungsvolleren Umgang mit dem Menschheitswissen beinhaltet. Auch wenn diese Forderung einen sehr hohen Anspruch darstellt, ist Reformierung der Schule nur möglich, wenn auch die weiterführenden Lebensbedingungen verändert werden. Schule darf nicht als abgeschlossener, von der Wirklichkeit entfremdeter, Raum existieren.

Der Gesamtunterricht berücksichtigt die Lebenswirklichkeit des Kindes als ganzheitliches Erfahrungsfeld. Als Alternative zum Fachunterricht, in welchem das Lernangebot und die Lernanforderungen fast ausschließlich vom Lehrer vorgegeben werden, ist auch der offene Unterricht stärker anzuwenden. Hierbei ist neben der inhaltlichen auch eine organisatorisch-selbständige und institutionelle Offenheit gefordert.

Zur Herausbildung sozialer Kompetenz sowie Methodenkompetenz ist der Gruppenunterricht sehr wertvoll. Hier wird vordergründig gemeinsames Lernen praktiziert. Der Lehrer sollte nur hintergründig den Unterricht steuern. Auch die Herausbildung von Sachkompetenz kann im Gruppenunterricht erfolgen. Unter diesem Aspekt verliert aber auch der Frontalunterricht nicht seine Bedeutung. Der Gruppenunterricht verlagert schulische Schwerpunkte von bildungstheoretischen Aspekten zum sozialen Lernen, was heute dringend notwendig erscheint. Leider werden diese Formen des Unterrichts heute fast nur in alternativen Schulmodellen praktiziert, welche keineswegs flächendeckend zur Verfügung stehen.

Weiterhin sollte in den Schulen mehr Integration, mit Schwerpunkt Gesamtschule, Ausländerpädagogik und Sonderpädagogik, erfolgen bzw. sollte Selektion, vor allem im Primar- und Sekundarbereich, stark verringert werden. Auch in den höheren Klassenstufen (Gymnasium) sollte Klassifikation nicht mit Selektion verwechselt werden. Dies ist besonders bei der Begabtenförderung zu beachten.

Zusammenfassend ist zu sagen, daß reformpädagogisches Denken heute vielleicht noch die Chance bietet, jungen Menschen in ihrem Selbstfindungsprozeß Hilfen anzubieten mit Blick auf ein erfülltes Leben in der menschlichen Gemeinschaft und somit auch die Gesellschaft menschlicher zu gestalten. Hierbei darf sich dieser Anspruch nicht nur auf Schule beschränken. Realitätsnähe ist jedoch zu wahren. Die Schwierigkeit besteht in der konkreten Umsetzung reformpädagogischer Forderungen vor Ort.